Höchst umstritten. Wäre eine Impfpflicht gegen das Coronavirus verfassungsrechtlich überhaupt möglich?
Historisch betrachtet existiert die Frage, inwieweit Menschen vom Staat zum Impfen verpflichtet werden können, beinahe so lange wie Impfungen selbst. 1796 entdeckte Edward Jenner den ersten Pockenimpfstoff. Um die Krankheit besser eindämmen zu können, erließen die USA bereits im Jahr 1813 ein Impfgesetz, das in erster Linie als Strukturierungshilfe bei der Verteilung des Impfstoffes fungieren sollte. Weitaus strenger ging es hingegen bei den Briten zu: Mit dem britischen Vaccination Act aus dem Jahr 1853 wurden alle Bürger verpflichtet, ihre Kinder gegen Pocken zu impfen. Wer sich weigerte, machte sich strafbar.
Die mit dem Coronavirus neuerlich entfachte Diskussion über eine Impfpflicht stellt uns vor die rechtlich nicht leicht zu beantwortende Frage, inwieweit Covid-19-Impfpflichten gesetzlich durchgesetzt werden könnten – natürlich unter der Voraussetzung, dass es irgendwann einen Impfstoff gibt. Eine Behandlung, die nicht auf dem freien Willen, auf der Einwilligung des Betroffenen basiert, greift in die Grundrechte der Menschen ein, was zu einer Kollision mit den im Verfassungsrang stehenden Rechten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), des Staatsgrundgesetzes (StGG) oder jenen der Grundrechtecharta der EU führen kann. So gewährt beispielsweise Art. 8 der Menschenrechtskonvention einen Anspruch auf Achtung des Privatlebens, wovon auch die körperliche und geistige Integrität umfasst sind. Medizinische Behandlungen ohne Zustimmung des Patienten stellen in der Regel einen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar – und solche Eingriffe sind nur sehr eingeschränkt zulässig. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Vergangenheit betont hat, muss der Eingriff zunächst einem Schutzziel dienen, etwa dem Schutz der Gesundheit. Darunter sind sowohl die Gesundheit der Gesamtbevölkerung als auch jene des Einzelnen gemeint.
Impfpflichten müssen aber auch geeignet sein, die Durchimpfungsrate innerhalb der Bevölkerung zu erhöhen. Kann das Ziel auch mit gelinderen Mitteln erreicht werden, sind diese Maßnahmen einer gesetzlich vorgeschriebenen Impfpflicht vorzuziehen. Solche gelinderen Mittel können beispielsweise Impfempfehlungen, Aufklärungsarbeiten oder kostenlose Impfprogramme sein. Ganz in diesem Sinne hat sich Österreich zum Beispiel der globalen Ausrottung von Polio verschrieben. Als Anreiz dafür, sich impfen zu lassen, sind Polio-Impfungen kostenfrei. Letztlich hat auch eine Interessensabwägung stattzufinden: Wie sehr wird in die körperliche Integrität des Menschen eingegriffen? Wie groß ist der Nutzen für die Gesamtbevölkerung? Oder konkreter formuliert: Welche Nebenwirkungen hat die Impfung? Kann die Impfpflicht tatsächlich zu einem Rückgang an Infektionen oder sogar zu einer Ausrottung der Krankheit führen?
Maßgeblich für die Beurteilung dieser Fragen sind in erster Linie die von Medizinern und Epidemiologen durchgeführte Evaluierungen, die anschließend als Grundlage für Politiker und Rechtsexperten dienen. Verfassungsrechtlich bedeutet das: Je schwerer der Eingriff für den Einzelnen, desto größer muss der Nutzen für die Bevölkerung sein. Nur wenn sich die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit durch eine Impfpflicht nachweislich – zum Wohle aller – eindämmen lässt, sind Eingriffe in die Grundrechte Einzelner denkbar. In Österreich gibt es aktuell keine generelle Impfpflicht. Bis ins Jahr 1981 war die Pockenimpfung verpflichtend. Impfungen gegen Masern-Mumps-Röteln (MMR) sind zwar Teil des Impfplans, sie sind aber nicht verpflichtend. Allerdings besteht in mehreren europäischen Ländern eine generelle Impfpflicht gegen Masern für Kinder und Jugendliche, so etwa in Lettland, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bulgarien, Polen und Ungarn. In Italien wurde die Impfpflicht 2017 eingeführt, Frankreich zog 2018 nach. Seit 1. März ist in Deutschland das Masernschutzgesetz in Kraft. Impfungen gegen Masern sind seither für Kinder und für Erwachsene, die mit Minderjährigen arbeiten, verpflichtend. Ob eine Covid-19-Impfpflicht in Österreich kommen könnte, hängt von vielen rechtlichen, vor allem aber auch medizinischen und epidemiologischen Parametern ab, die derzeit noch ungewiss sind. Geht man jedoch davon aus, dass es sich beim Coronavirus um eine Krankheit handelt, die nicht nur die erkrankte Person selbst gefährdet, sondern auch viele andere (wohl unstrittig), und ist der mit einer Impflichtpflicht einhergehende gesellschaftliche Nutzen im Rahmen der Abwägung höher zu bewerten als der Schutz des Einzelnen, wäre es theoretisch möglich.
STEPHAN KLIEMSTEIN