AllgemeinIch klage, also bin ich: Eine Analyse zur Coronaviruskrise

April 8, 2020

Schadenersatz, Amtshaftung, Verdienstentgang: Die Coronaviruskrise stellt uns auf die Probe – nicht nur rechtlich sondern auch menschlich.

Anwälten geht die Arbeit nie aus, sagt man. Die Coronaviruskrise beweist das einmal mehr: Kann ich die Reise kostenlos stornieren? Welche Ansprüche habe ich als Arbeitnehmer? Muss ich meine Miete bezahlen? Die Verunsicherung ist derzeit groß, bei Unternehmern wie Privaten. Kein Wunder: Bei vielen geht es um die Existenz. Alleine die Frage, welche Fristen unterbrochen sind und welche ganz normal weiterlaufen, sorgt bei manchen Menschen für schlaflose Nächte. Und so türmen sich derzeit Covid-19-Anfragen auf den Tischen vielbeschäftigter Juristen.

Für Advokaten ist Corona zum Geschäft geworden – und das, obwohl der Gerichtsbetrieb mittlerweile fast völlig zum Erliegen gekommen ist. Ob Verhandlungen abgesagt werden oder nicht, entscheiden die Richter selbst. Termine sollen aber nur noch dann stattfinden, wenn sie unbedingt notwendig sind, wenn sie sich also wie etwa im Fall von Haftprüfungen nicht aufschieben lassen. Aktuell werden viele Verhandlungen abberaumt. Und manche Gerichtsabteilung ist jetzt telefonisch noch schwieriger zu erreichen als vor der Krise. Im Kadi herrscht Endzeitstimmung: verwaiste Säle, leere Gänge, eine gruselige Stille. Wo sich vor wenigen Wochen noch Menschen dicht an dicht vor den Schleusentüren drängten, wartet jetzt, recht einsam, die Dame vom Sicherheitsdienst mit einem Fieberthermometer. Die Justiz steht still.

Für andere Rechtsberufe bedeutet die Krise aber auch Möglichkeiten: „Corona: Schadensersatz prüfen und Amtshaftungsansprüche durchsetzen“ – solche und ähnliche Slogans finden sich immer öfter auf den Webseiten von Rechtsanwälten und Verbraucherschützern. Online machen diverse Covid-19-Handbücher die Runde, spezielle „Corona-Taskforces“ werden ins Leben gerufen. In vielen Anwaltskanzleien herrscht Hochbetrieb. Gründe zum Klagen gibt es reichlich: Verträge sollen aufgehoben werden, Stichwort: höhere Gewalt. Der Arbeitgeber gehört verklagt oder zumindest irgendjemand, von dem Geld zu erwarten ist. Die Frage, ob überhaupt ein Schaden eingetreten ist, spielt dabei oft gar keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Auch der Nachbar, der immer schon unsympathisch war, soll jetzt angezeigt werden, weil er sich nicht an die Vorgaben der Regierung hält.

Klagen in Zeiten der Krise. Eigentlich sind wir Österreicher so nicht. Unsere Form der Streitbewältigung ist gänzlich anders als etwa die amerikanische Klagskultur, die wir ja gerne belächeln und anprangern. Weil sie in unseren Augen nicht maßgerecht, nicht verhältnismäßig ist und uns deshalb oft absurd erscheint. Eine Millionen-Dollar-Klage, weil sich ein Kunde verbrüht, nachdem ein Mitarbeiter eines Fast-Food-Restaurants den Deckel eines Kaffeebechers nicht ordentlich angebracht hat? Bei uns ist so etwas völlig undenkbar. Gerade auch, weil Schadenersatz hierzulande weitaus restriktiver zugesprochen wird als in den Vereinigten Staaten. Das mag nicht in allen Fällen gerechtfertigt sein – besonders die nach österreichischem Recht global bemessenen Schmerzengelder wirken oft eher symbolisch, verglichen mit den tatsächlichen Schmerzen, die der Verletzte im Prozess behauptet. Auf der anderen Seite konnte sich bei uns eine Klagsindustrie, wie sie sich in den USA etabliert hat, wohl auch aufgrund dieser Einschränkungen bis heute nicht entwickeln.

Zumindest noch nicht. Denn aktuell zeichnet sich eine zu hinterfragende Trendwende ab: Sammelklagen haben schon in den letzten Jahren immer mehr an Popularität gewonnen. Auch inmitten der andauernden Coronaviruskrise prüfen Verbraucherschutzvereine und Prozessfinanzierer, inwieweit Schadenersatz- und Amtshaftungsansprüche geltend gemacht werden können. Da geht es beispielsweise um Kompensationen für Tourismusbetriebe, die aufgrund der angeordneten Hotel- und Pistensperren wirtschaftliche Einbußen erleiden. Auch um Entschädigungsansprüche für Urlauber, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben, weil die Behörden bei der Schließung von Hotels und Pisten angeblich aus wirtschaftlichen Gründen zu lange zugewartet hätten.

Jedem sein Recht, schon klar. Und in vielen Fällen ist sicherlich dringender Handlungsbedarf gegeben. Doch gerade jetzt, in dieser schwierigen Zeit, ist es umso wichtiger sorgfältig abzuwägen, welche rechtlichen Schritte wirklich nötig sind und welche nicht.

STEPHAN KLIEMSTEIN